- Vorläufer zahlreicher erfolgreicher Baureihen
- Besonders robuste Bauweise für raue Einsätze
- Bewährte Motoren aus dem Pkw
- Gefertigt an vier Standorten in Deutschland und Spanien
- Sympathieträger: der kompakte Omnibus O 319
Stuttgart. Der deutsche Fußballmeister heißt Rot-Weiß Essen, der Bundeskanzler nimmt Platz im Mercedes-Benz namens „Adenauer“. Man schreibt das Jahr 1955 und das von Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt und seiner sogenanten sozialen Marktwirtschaft angeschobene Wirtschaftswunder verlangt nach neuen Transportmitteln. Die Antwort heißt unter anderem Mercedes-Benz L 319. Der erste Transporter mit Stern – damals „Schnell-Lastwagen“ genannt – feiert seine Premiere im September auf der IAA. Er ist Vorläufer von zahlreichen erfolgreichen Transporter-Generationen von Mercedes-Benz bis zu den aktuellen Baureihen Sprinter, Vito und Vario.
Robuste Bauweise für raue Einsätze
Nach einer ganzen Generation neuer Lkw und nach neuen Omnibussen dehnt die damalige Daimler-Benz AG ab 1955 ihr Nutzfahrzeug-Programm in leichtere Gewichtsklassen aus. Mit 3,6 Tonnen Gesamtgewicht und kompakten Abmessungen kommt die neue Baureihe L 319 für Handwerk, Handel und Gewerbe gerade recht. Den Ansprüchen handfester Naturen entspricht die Technik: Ein tragender Leiterrahmen für die Fahrgestelle und Pritschen – der Kastenwagen hat eine mittragende Konstruktion –, blattgefederte Starrachsen vorne und hinten sowie Zwillingsbereifung an der Hinterachse und große
16-Zoll-Räder bedeuten belastbare Technik. Sie verkraftet klaglos auch raue Behandlung, wie sie in Besitzerkreisen größerer Transporter üblich ist. Trotz seiner robusten Bauweise verfügt der L 319 über eine hohe Nutzlast: Sie beläuft sich je nach Variante auf 1,6 bis 1,8 Tonnen.
Frontlenker-Optik im Stil der Lkw und Omnibusse
Ungewöhnlich tritt der neue L 319 optisch auf: Fahren schwere und leichte Lastwagen in den fünfziger Jahren üblicherweise als Haubenwagen vor, so nutzt man für leichte Transporter gerne die Platz sparende Frontlenker-Bauweise. Folgerichtig wählen die Entwickler für den L 319 eine Optik, die den zwei nahezu parallel erscheinenden Baureihen LP 315 (der erste Frontlenker-Lkw von Mercedes-Benz) und dem rundlichen Omnibus O 321 H ähnelt: Der ovale Grill des L 319 fasst vorne sowohl den großen Stern als Markenzeichen ein als auch die Rundscheinwerfer. Analog zu Omnibus und Lkw ziert den Transporter ebenfalls ein Band aus Chrom. Es zieht sich unter der Windschutzscheibe quer über die rundliche Frontpartie bis seitlich über die Türen des Fahrerhauses.
Im Unterschied zu Lkw und Bus verfügt der L 319 jedoch über eine einteilige, kühn geschwungene Panorama-Frontscheibe. Trotz Frontlenker-Bauweise erreichen die Konstrukteure einen komfortablen Einstieg hinter der Vorderachse. Die deshalb ungewöhnlich weit nach vorn gerückte Achse und dynamisch ausgestellte Radläufe geben der Optik des Transporters ein sehr eigenständiges Gepräge.
Antriebstechnik aus dem Pkw
Hinter der flachen Frontpartie arbeiten Vierzylindermotoren mit einer eher zurückhaltenden Leistung. Anfangs steht ausschließlich der Dieselmotor aus dem Pkw 180 D zur Verfügung, er bringt es aus 1,8 Liter Haubraum auf 43 PS. Bald darauf ergänzt der Benziner aus dem 190 mit 1,9 Liter Hubraum und 65 PS das Programm. Die Transporter laufen bis zu 95 km/h (Benziner) oder 80 km/h (Diesel) schnell – Robustheit zählt deutlich mehr als Geschwindigkeit. Wenn im zeitgenössischen Prospekt von einem „temperamentvollen Motor“ die Rede ist, spricht es eher für den Optimismus und die wirtschaftliche Aufbruchstimmung dieser Jahre. Die Kraftübertragung erfolgt jeweils über ein Vierganggetriebe auf die Hinterachse. Der Schalthebel am Lenkrad ist ein früher Vorläufer des Joysticks im aktuellen Sprinter. Blinker und Hupe werden über einen Signalring am Volant betätigt.
Nicht nur mit Antriebstechnik und Schaltung zeigt der L 319 eine enge Verwandtschaft zu den Pkw des Hauses. Auch der erste Prospekt betont mit einer damals üblichen Zeichnung auf der Titelseite die Klammer zwischen Nutzfahrzeug und Pkw: Auf dem Bild reiht sich der L 319, einsatztypisch vor einer Gemüsehandlung drapiert, in den Straßenverkehr ein. Am Transporter vorüber ziehen eine
Mercedes-Benz „Ponton“-Limousine und der Sportwagen 300 SL.
Starten und Service verlangen Aufmerksamkeit
Das Starten des Dieselmotors im L 319 D lässt sich mit dem kurzen Prozess in modernen Direkteinspritzern nicht vergleichen. Das Vorkammertriebwerk verlangt beim Kaltstart nach der klassischen Diesel-Gedenkminute – so lange etwa muss der Fahrer den Starterhebel gezogen halten. Klaglos versorgt der Transporter-Lenker alle 1000 Kilometer mit der Fettpresse eine Handvoll Schmierstellen rund um das Fahrgestell. Die Betriebsanleitung informiert ausführlich über das Nachziehen der Zylinderkopfschrauben und das Einstellen des Ventilspiels und das Reinigen von Öl- und Kraftstofffilter – der Fahrer ist in jenen Jahren für einfachere Arbeiten ganz selbstverständlich auch sein eigener Mechaniker.
Die geradlinige Form des Armaturenbretts macht ihrer Bezeichnung alle Ehre, das Instrumentenbord enthält gerade mal einen Tachometer und ein Kühlwasserthermometer – mehr Instrumente gibt es nicht. Eine Tankuhr fehlt, der Fahrer muss selbst kalkulieren, wie weit der Kraftstoff im 60-Liter-Tank reicht.
Geräumiger Laderaum, mehrere Varianten
Dank der kompakten Frontlenker-Bauweise des nur 4,8 Meter langen Transporters misst der Laderaum in der Länge immerhin drei Meter, das Volumen beläuft sich beim Kastenwagen 8,6 Kubikmeter – da kann man ordentlich einpacken. Es gibt den L 319 als Kastenwagen, Pritschenwagen, Tieflader sowie als Verkaufswagen mit Markisenverschlüssen an Seiten und Heck, bezeichnet als „offener Lieferwagen“. Auch ein Kastenwagen mit Schiebetüren zählt zum Angebot. Doch Vorsicht: Damit sind Platz sparende Schiebetüren für das Fahrerhaus gemeint, die Schiebetüren für den Laderaum sind in diesen Jahren noch nicht erfunden, das Frachtabteil ist beim Kastenwagen nur von hinten durch Drehtüren zugänglich.
Gefertigt in Sindelfingen, Düsseldorf, Vitoria und Mannheim
Im Laufe seines zwölf Jahre langen Lebens – die Serienfertigung beginnt 1956 und endet erst 1968, verleihen stärkere Motoren mit bis zu 55 PS (Diesel) und 80 PS (Benziner) dem L 319 mehr Schwung. Ohnehin verbringt der Transporter ein bewegtes Leben: Zunächst in Sindelfingen gefertigt, wechselt der Produktionsstandort 1962 nach Düsseldorf. Dieses Werk hatte die Daimler-Benz AG 1958 zusammen mit der Auto Union übernommen, es ist bis heute das Leitwerk für die Transporter des Konzerns und jetzt die Heimat des Mercedes-Benz Sprinter. Dritter Standort des L 319 ist Vitoria in Spanien, dieses Werk montiert den Transporter in den sechziger Jahren aus Teilesätzen, zugeliefert aus Düsseldorf. In Mannheim entstehen auf Basis des Kastenwagens kompakte Omnibusse.
Sogar die Typenbezeichnung ändert sich mit den Jahren. Geht der anfängliche Modellname L 319 wie damals üblich auf die interne Konstruktionsbezeichnung zurück, so wechselt sie ab 1963 in die noch heute gültige Nomenklatur aus Tonnage und Leistung. So endet die Geschichte des L 319 im Jahr 1968 (in Spanien erst 1970) als L 408 und L 406.